Vortragsreihe 2024-2025:
ERWACHSENWERDEN?? - Aufwachsen und Entwicklung von Identität im 21.Jahrhundert
Die Generationen der sogenannten „Millennials “ und noch stärker die „Generation Z“ wachsen in einer Welt auf, in der sich die Bedingungen für ihr Aufwachsen und für eine Entwicklung von Identität radikal verändert haben und ständig weiter verändern gegenüber denen, die die Generationen vor ihnen vorfanden.
Bereits unser letzter Vortrags-Zyklus beschäftigte sich mit dem „Einbruch der Digitalisierung“. Im aktuellen Zyklus wollen wir dieses Thema unter der Perspektive fortsetzen, was die Digitalisierung - aber auch allgemein was veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen - für das Aufwachsen in dieser so anders gewordenen Welt bedeuten. Was verändert sich durch die allgegenwärtige Präsenz von sozialen Medien und dem alles erklärenden und zeigenden YouTube, durch Instagram, Tinder, WhatsApp oder Tik Tok? Und was bedeutet in diesem Zusammenhang der exponentiell wachsende Einsatz Künstlicher Intelligenz, deren Veränderungspotential derzeit noch kaum abschätzbar ist.
Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme, auf einen Erfahrungsaustausch und auf anregende Diskussionen.
Vorträge jeweils 20.30 Uhr
Mittwoch, 13.11.2024
Paola F. Acquarone
Wie Essig in Öl: ein Versuch, über psychische Schwebezustände nachzudenken
Durch die Medien erreichen uns potentiell unbegrenzte Informationen über das, was in
unserer nahen und fernen Umgebung geschieht. Doch im Behandlungsraum scheint die
zunehmend beunruhigende Außenwelt zu verschwinden. Ich möchte eine innere Verfassung
beschreiben, die ich als eine Art „Suspension“ erlebe: Anhand von klinischen Vignetten
werden Zustände von fehlender psychischer Realität bei Patient:innen vorgestellt, die den
Kontakt mit dem „Nicht-Ich“ kaum tolerieren. Sie befinden sich in einem schwebenden,
instabilen und zugleich unberührbaren Zustand, in dem die Präsenz und die Abwesenheit
der Objekte und deren Beschaffenheit durch das aktive Eintauchen in bezugslose Welten
(Auswanderung, Clubbing, Substanzen) abgewehrt wird. Ein dreidimensionaler „potential
space“ (Winnicott), in dem eigene und fremde Realität miteinander kommunizieren, fehlt.
Kann die Psychoanalyse eine „Brücke über den Abgrund“ (M. Milner) bauen.
Dipl. Psych. Paola F. Acquarone, Psychologische Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin (DPG, IPV), niedergelassen in freier Praxis in Berlin, Lehranalytikerin, Supervisorin und Dozentin am IPB Berlin und als Beauftragte für die IPV-Ausbildung der DPG beteiligt an der Entwicklung und konkreten Umsetzung der neuen Ausbildung in der DPG.
Mittwoch, 22. Januar 2025
Dr. Anna Gätjen
Immer online? Was macht das Smartphone im Behandlungsraum?
Meine Perspektive auf das Thema ist die einer Kinder- und Jugendlichen-Psychoanalytikerin, die das Phänomen der vermehrt anwesenden digitalen Medien in der analytischen Behandlung in den Blick nimmt und ich werde meinen Blick auf Jugendliche eingrenzen.
Ich möchte versuchen, ein vertieftes Verständnis zu erzielen, das dieses Phänomen in seiner kulturellen wie klinischen Bedeutung auslotet und zwischen den derzeitig polarisierenden Aussagen: „Das muss man unterbinden“ oder das ist doch wie mit den Wasserflaschen, das gehört halt zu den heutigen Jugendlichen“, oder "das muss man anbieten", einen Weg beschreibt.
Dr.phil. Dipl.Psych. Anna Gätjen ist Psychoanalytikerin für Erwachsene, Kinder und Jugendliche der DPV/IPV. Sie arbeitet in privater Praxis in Berlin Schöneberg und ist Lehranalytikerin/ Supervisorin und Dozentin am Karl-Abraham Institut in Berlin. Unterschiedliche Veröffentlichungen zur Kinder- und Jugendlichenanalyse u.a. zum Thema Mutismus, über das Ende einer Kinderanalyse und zur Transgenerationalen Weitergabe von Traumatisierungen.
Buchveröffentlichung 2021: „Immer online? Das Smartphone zwischen Begrenzung und Begehren in der psychoanalytischen Behandlung Adoleszenter.“
Frau Gätjen arbeitete in einem Forschungsprojekt an der IPU unter Leitung von Prof. Löchel, in dem unterschiedliche Kontexte sozialer Medien, auf dem Hintergrund psychoanalytischer Fragestellungen und psychoanalytischer Forschungszugänge untersucht wurden.
Mittwoch, 19. Februar 2025
Dr. med. Sebastian Thrul
Identitäre Zeiten und die Zumutungen der Psychoanalyse
Als Psychiater und Psychoanalytiker werde ich in den letzten Jahren von vielen Menschen aufgesucht, die von mir zunächst nichts Neues über sich erfahren wollen, sondern sich die Bestätigung einer Diagnose, oder vielmehr, einer damit verknüpften Identität wünschen. In meinem Vortrag will ich zunächst der Frage nachgehen, wie der aktuelle Auftrieb diagnosengestützter Identitäten politisch und klinisch verstanden werden könnte. Vielleicht kann über dieses Ringen um Verständnis bereits ein Gespräch jenseits von Polarisierungen entstehen. Vorbild für diesen Prozess wäre die Psychoanalyse als Behandlungsmethode, die zwar eine Zumutung für identitäre Sehnsüchte darstellt, gleichzeitig jedoch einen geschützten Raum und eine stabile Beziehung zur Verfügung stellt, in der ebensolche Zumutungen ausgehalten und bearbeitet werden können. Abschließend wird zu fragen sein, ob sich von diesem Vorbild Rahmenbedingungen für das Gelingen gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse ableiten lassen.
Sebastian Thrul, Dr. med., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, Oberarzt Psychiatrie Baselland, Leiter der Sprechstunde für Geschlechterfragen und der Sprechstunde für ADHS bei Erwachsenen; Psychoanalytiker; Dozent, Supervisor und Lehrtherapeut am Ausbildungszentrum für Psychoanalytische Psychotherapie (AZPP) Basel; Podcast Host (New Books in Psychoanalysis, Forward - Free Association Lisbon
Mittwoch, 19. März 2025
Prof. Dr. Vera King
Erwachsenwerden in der Krise
Wie verändern sich Adoleszenz und Erwachsenwerden in Krisenzeiten? Wie stellt sich das Konzept des ‚Emerging Adulthood‘ aus adoleszenztheoretischer und zeitdiagnostischer Sicht dar, welche Rolle spielen Generationendynamiken und Generativität? Konzeptionelle und zeitdiagnostische Überlegungen werden mit Beispielen aus der Forschung zu Wandlungen des Erwachsenwerdens in digitalen Welten veranschaulicht.
Prof. Dr. Vera King ist Geschäftsführende Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts & Professorin für psychoanalytische Sozialpsychologie und Soziologie an der Goethe-Univ. Frankfurt/M., zuvor war sie Professorin für Sozialisations- und Entwicklungsforschung an der Univ. Hamburg. Forschungen zu Folgen gesellschaftlichen Wandels für Kultur und Psyche, insbesondere zu Generationenverhältnissen und Lebensphasen, Adoleszenz und Generativität sowie zu psychischen Entwicklungen in digitalen Welten.
Publikationen: Von V. King erschien u.a. bei Psychosozial das Buch 'Sozioanalyse. Zur Psychoanalyse des Sozialen mit Perre Bourdieu' (2022), 2023 der Band 'Adoleszenz und Generationendynamik im Kontext von Migration und Flucht' mit Benzel u.a., sowie bei Suhrkamp, 2021 der Band ‚Lost in Perfection. Zur Optimierung von Gesellschaft und Psyche‘, hrsg. von King, Gerisch & Rosa.
Mittwoch, 21. Mai 2025
Carolin Schnackenberg
Ein eingehegtes Wagnis - Die Dating-App Tinder und das Sprechen darüber im Rahmen einer Interviewstudie
Wird über die mobile Dating-App Tinder im Sinne eines Mediums nachgedacht, stellt sich die Frage nach den Erfahrungsmöglichkeiten, die diese Vermittlung eröffnet beziehungsweise begrenzt. Anhand von Textausschnitten aus einer psychoanalytisch-tiefenhermeneutisch ausgerichteten Interviewstudie lässt sich dies nachvollziehen. Der Übergang vom vorgestellten Kontakt zur realen Begegnung - von der Wunschfantasie zur Realität - wird im Kontext dieses Mediums in spezifischer Weise vermittelt und reguliert. Dabei kommt sowohl den Eigenschaften des Mediums eine Bedeutung zu, als auch den kollektiv geteilten Fantasien, die sich an dieses anheften. An diese Überlegungen anknüpfend, möchte ich im Rahmen meines Vortrags einen Einblick in den Forschungsprozess geben, indem ich einzelne Sequenzen aus verschiedenen Interviews darstelle. Dabei versuche ich auch nachzuzeichnen, inwiefern gerade das Sprechen über Sexualität im Rahmen dieser Interviewstudie zumeist vielfältigen Ab- und Umlenkungen folgt und sich so als kleine Unmöglichkeit erweist.
Carolin Schnackenberg, Psychologin (M.Sc.), war als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der IPU Berlin mit verschiedenen Phänomenen der »Social Media« befasst, unter anderem im Rahmen ihrer Forschung zur Dating-App Tinder. Sie befindet sich in Weiterbildung zur Psychoanalytikerin und tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapeutin am BIPP Berlin und arbeitet freiberuflich als Referentin in der außerschulischen Bildungsarbeit mit Jugendlichen.